Wie kann es sein, dass im Land mit der weltweit viertgrößten Bevölkerung ein Fachkräftemangel existiert? Welche Dynamik herrscht, wenn mehr als 50 % der Menschen unter 30 sind? Und welches Wachstum steht Indonesien bevor, das durch digitale Technologien so manchen Entwicklungsschritt einfach überspringt?
Angekommen in Jakarta. Erste Amtshandlung auf meiner Forschungsreise? Verabredungen mit Studierenden der örtlichen Universitäten! Ich frage mich: Was bewegt unsere Generation in einem Entwicklungsland wie Indonesien? Nach welchen Werten leben sie, welche Träume verfolgen sie? Natürlich verabreden wir uns digital per WhatsApp, auch sie sind Millennials und gehören zur digitalen Generation. Und sie sind uns ähnlicher, als ich mir dies je hätte vorstellen können. Ich bestelle mir einen Fahrer, per App, klar, gebe die Zieladresse ein und schlängle mich durch den Stau der 30-Millionen-Einwohner-Metropolregion.
Das Eis? Schnell gebrochen – und schon werde ich mitgenommen an die Orte, wo die jungen Leute ihre Freizeit verbringen. In moderne Restaurants, hippe Bars und angesagte Nachtclubs. Dabei vergesse ich kurz, dass ich gerade in einem Entwicklungsland bin, in dem noch immer ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Neben etlichen jungen Indonesiern scheine ich an diesen Orten der einzige Ausländer zu sein. Eine Konversation zu führen fällt dennoch leicht. Die Studenten sprechen besseres Englisch als meine Kommilitonen zu Hause, und auch die Themen kommen mir bekannt vor: Emanzipation, Frauen in Ingenieursberufen, Sinnhaftigkeit im Beruf, ein erfülltes Leben, die Frage, bei welchem Arbeitgeber man anfangen möchte. Klar, meine Gesprächspartner repräsentieren nicht den Durchschnitt der gesamten Bevölkerung – wohl aber die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe: Derzeit gehören 28 % der Indonesier zur Mittelschicht, bis 2030 sollen es bis zu 50 % sein. Die Bevölkerung ist jung, aufstrebend und gewillt, den eigenen Wohlstand, die eigene Karriere und das Land voranzubringen.
Über 260.000 Einwohner leben auf den rund 17.000 indonesischen Inseln. Mit einer jährlichen Wachstumsrate von 5 bis 6 % (reales GDP) gehört Indonesien zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt und schon jetzt stellt es global die siebtgrößte Volkswirtschaft (GDP PPP) dar. Zum Vergleich: Deutschland belegt (noch) Platz 5 – bei einer Wachstumsrate von ca. 1,4 % im Jahr 2018.
Ganz wie zu Hause: Fachkräfte dringend gesucht
Doch die Wachstumsdynamik wird bereits jetzt von einem Problem gebremst, das uns in Deutschland recht bekannt vorkommen dürfte: Es fehlen qualifizierte Fachkräfte. Erfahrene Manager, Ingenieure, Programmierer. Es herrscht praktisch Vollbeschäftigung. 24,25 % eines Jahrgangs immatrikulieren sich in Indonesien an einer der 4600 Universitäten, von denen es bislang noch keine unter die globalen Top 200 geschafft hat. Beachtlich ist der Frauenanteil von über 52 %. Mit der entsprechenden Ausbildung wird man direkt von den großen Tech-Playern des Landes aufgesogen, die aus gutem Grund massiv in ihr Employer Branding und ihre Arbeitgeberattraktivität investieren. Sogar das indonesische Vorzeige-Tech-Unternehmen Go-Jek musste über 3000 Entwicklerstellen nach Indien verlegen, weil die entsprechenden Talente im eigenen Land schlicht nicht zur Verfügung stehen. Das Einstiegsgehalt für Bachelor-Absolventen liegt umgerechnet über 1.000 EUR – ein Vielfaches des Mindestlohnes von ca. 300 EUR.
Amazon? eBay? Kennt hier keiner!
Go-Jek. Noch nie gehört? Es ist das wertvollste Start-up Indonesiens, inzwischen bewertet als Decacorn (Wert von über 10 Mrd. USD). Die App bringt nach Indonesien, was wir im Westen von Uber kennen: die Vermittlung von Motorradtaxis („ojek“) und Autotaxis. Daneben können über die App mehr als 20 weitere Dienstleistungen beauftragt werden, unter anderem Friseure, Masseure, Reinigungskräfte, Medikamenten- und Essenslieferungen. Ein Bezahldienst bzw. ein elektronisches Bankkonto ist auch integriert, klar. Amazon und eBay sind hier hingegen nahezu unbekannt. Einige Felder, die im Westen von den bekannten Internetriesen angeführt werden, werden in Indonesien lokal dominiert. Tokopedia (Online-Shopping), Traveloka (Reisebuchungen) oder Bukalapak (so etwas wie eBay) sind Unicorns (Wert jeweils über 1 Mrd. USD) und allesamt marktführend im eigenen Land. Die verschiedensten Herausforderungen und Eigenheiten, die der indonesische Markt mit sich bringt, scheinen für ausländische Unternehmen zu kompliziert und damit uninteressant. Gleichzeitig konzentrieren sich diese indonesischen Unternehmen hauptsächlich auf den eigenen Markt – im viertgrößten Land der Erde scheint die Erschließung des heimischen Marktpotenzials erst einmal ausreichend.
Ohne Zwischenstopp in die Zukunft
Als Tech-Start-ups sind alle diese Unternehmen jünger als 10 Jahre. Mit ihnen ist in Indonesien ein relevantes Start-up-Ökosystem entstanden, das sich hauptsächlich auf die Metropolregion Jakarta konzentriert. 2012 wird immer wieder als das Jahr der Initialzündung genannt. Aufgrund staatlicher Förderung existiert inzwischen ein stetig wachsendes Netz aus Inkubatoren, Acceleratoren und Coworking-Spaces, über 4 Mrd. USD an Venture Capital sind 2018 nach Indonesien geflossen. Fin-Techs werden als eines der entscheidenden Wachstumsfelder gehandelt. Denn weniger als 50 % der Indonesier haben ein Bankkonto, weniger als 5 % eine Kreditkarte. Es ist eines der Felder, auf denen das Phänomen „Leapfrogging“ auftreten wird, also das Überspringen gewisser Entwicklungsschritte. So werden in absehbarer Zeit ein Großteil der indonesischen Bevölkerung E-Wallets einsetzen, ohne je eine Bankfiliale von innen gesehen zu haben.
Zwischen Populismus und Weltoffenheit
Das Potenzial für Geschäft und Technologie könnte kaum größer sein. Entscheidend wird jedoch sein, wie sich das Klima in Gesellschaft und Politik entwickelt. 90 % der Bevölkerung gehören dem Islam an. Indonesien steht für einen liberalen, weltlichen Islam – bislang. Radikalisierende und populistische Tendenzen breiten sich aus, auch hier beflügelt durch die Echokammern der Social Media. In einer ersten Region herrscht bereits das Scharia-Gesetz. Sollten die Forderungen nach einem noch weitreichenderen Protektionismus die Oberhand gewinnen, würde dies das Potenzial des Landes deutlich verringern. Allein wegen des Kapitalzugangs. Doch es bleibt Grund zum Optimismus: Vor wenigen Monaten konnte der amtierende Präsident Joko Widodo den Wahlkampf gegen einen populistischen Gegenkandidaten gewinnen. Dieses Wahlergebnis steht für Pluralismus, weitreichende Reformen, Föderalismus und eine gewisse wirtschaftliche Öffnung.
Mit den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne stolpern meine indonesischen Bekannten mit mir auf die Straße. Die Rufe der Muezzin schallen bereits aus allen Richtungen. Die Studierenden erzählen mir von ihren Träumen. Nach dem Studium raus aus der Stadt, einen Job lieber an einem lebenswerteren Ort. Bali wäre schön. Und sie möchten sich in ein paar Jahren unbedingt mal Europa anschauen. Klar, meldet euch gerne! Wir folgen uns gegenseitig auf Instagram, da kommen auch schon unsere Go-Jek-Taxis – und ich frage mich: Was würden diese Menschen nach ihrem Besuch wohl über Deutschland schreiben?