Nun ist er also da, der Kompromiss beim „Digitalpakt Schule“. Der so dringende und wichtige erste Schritt in der Aufholjagd des Digitalen Entwicklungslandes Deutschland. Denn was sich Deutschland in seiner Bildungsentwicklung derzeit leistet (oder besser: eben nicht leistet), ist erschreckend für das Land der Tüftler und Denker.
Dass Schulen an der Lebensrealität vorbei bilden- darüber mag sich bisher jede Generation beschwert haben. So treffend wie heute war der Vorwurf jedoch selten zuvor: 57 Millionen Deutsche besitzen ein Smartphone, bei den 12-13 Jährigen sind es 95%, bei den 18-19 Jährigen 99%. Ohne Digitale Systeme läuft nichts mehr, weder der Schulbus, noch die Ampel, noch jedes einzelne Unternehmen. Die Zahl der unbesetzten Stellen für IT-Fachkräfte bricht monatlich neue Rekorde, allein in Deutschland sind derzeit 82.000 IT-Stellen offen. Algorithmen beeinflussen tagtäglich und unbemerkt unser Verhalten und Zusammenleben. Filterblasen und Fake News bestimmen sogar Präsidentschaftswahlen.
Schulen sollen künftige Generationen zu mündigen Bürgern machen? Ziel verfehlt. Setzen, sechs.
Und an deutschen Schulen? Da herrscht Handyverbot, gibt es Noten auf Schönschrift und es werden stoisch Texte auswendig gelernt. Ein Computer? Muss reichen für
11,5 Schüler. Tablets? In 6,5% der deutschen Schulen. WLAN? Nur an den wenigsten Schulen vorhanden. Ein Medienkonzept? Hat nur jede zweite Schule. „Lehren mit Digitalen Medien“ in der Lehrerausbildung? Fehlanzeige. Hohe Medienkompetenz? Besitzen nur
1,5% der Schüler. Schulen sollen künftige Generationen zu mündigen Bürgern machen? Ziel verfehlt. Setzen, sechs.
Digital Anpacken statt Digitalpakt
Allerhöchste Zeit, sich gesellschaftlich und politisch zu fragen: Wollen wir diese Situation weiter verantworten? Der Kompromiss im „Digitalpakt Schule“ ist ein erster Schritt. Das Grundgesetz soll dafür geändert werden, der Bund soll die „Bildungsinfrastruktur“ der Länder ko-finanzieren – wenn auch um den Preis der alleinigen Entscheidungsfreiheit der Länder. Doch um die „Zukunfts- und Innovationsfähigkeit Deutschlands im internationalen Wettbewerb“ zu sichern, wie es auf der Webseite des Bundestags heißt, braucht es mehr als Digitale Infrastruktur.
Damit die Investitionen auch tatsächlich sinnvoll eingesetzt werden, müssen zuerst einmal Lehrer damit umgehen können. „Digitale Didaktik“ gehört ins Pflichtcurriculum jeder Lehrerausbildung. Bereits tätige Lehrer benötigen nicht nur die Möglichkeit zur Weiterbildung, sondern auch zu regelmäßigen Trainings des digitalen Lehrens. Darauf weist der Verband Bildung und Erziehung (VBE) selber deutlich hin. Idealerweise bekommt nicht nur jede Schule einen eigenen IT-Administrator, der die Infrastruktur am Laufen hält und bei Problemen hilft, sondern auch einen schuleigenen „Digitale-Didaktik-Coach“.
Für die Integration in den Lehralltag braucht es Konzepte, an welchen Stellen, Themen und Kompetenzen die digitale Unterstützung eingesetzt wird. Statt hier jede Schule, wie derzeit, ihr eigenes Süppchen kochen zu lassen, wären verbindliche Verankerungen in den landesweiten Lehrplänen äußerst sinnvoll. Nicht der Zufall darf über die Digitalkompetenz der Schüler entscheiden, sondern allen sollte eine gleichwertig zeitgemäße Bildung offenstehen. Für den praktischen Einsatz müssen digitale Lehrmaterialien, digitale Schulbücher und entsprechende Apps entwickelt werden. Daran versuchen sich etablierte Schulbuchverlage bereits ebenso wie Apple und weitere IT-Unternehmen.
Im internationalen Vergleich gehört all dies bereits zum Alltag: In Norwegen kommen auf einen Computer 2,4 Schüler. In Estland arbeitet an jeder Schule bereits ein eigener Informatiker, Lehrer müssen Computerkenntnisse nachweisen und eine national einheitliche Schulverwaltungsplattform ist etabliert. Und in Dänemark wird seit 2010 während der Abiturprüfungen im Internet recherchiert.
Weitsichtig wie ein Maulwurf
Doch allein schon diese Schritte erscheinen für Deutschland als eine kräftezehrende und langwierige Herausforderung. Dabei sind das noch längst keine innovativen Bildungsrevolutionen, sondern eher evolutionäre Schritte, das „alte Schulsystem“ ein bisschen digitaler zu machen. Gedichte und Jahreszahlen lernen vom Bildschirm, Hausaufgaben per Mail einreichen und zwischendurch mal eine Online Recherche. Soweit so gut. Und soweit so dringend, den Schulalltag und Lebenswelt wieder näher zusammenzubringen. Aber: Für echte Zukunftsfähigkeit braucht es mehr.
Die drängenden Fragen, die wir uns stellen sollten, sind aber grundsätzlicherer Art: Welche Fächer und Inhalte braucht es heute noch in den Lehrplänen? Schillers Glocke? Photosynthese? Latein? Oder sollten es nicht eher die Fähigkeiten sein, sich alles schnell selbst anzueignen? Und in welcher Form findet der Unterricht statt? Alle Schüler im selben Tempo angeleitet vom Lehrer? Oder ganz im Sinne des Flipped Classroom: Jeder bringt sich in seinem Tempo, mittels interaktiver Lernmedien und -videos, den Stoff selbst bei. Und der Lehrer steht als Coach bei Fragen und Schwierigkeiten zur Seite. Und natürlich: Wollen wir uns in einer digitalisierten Welt weiterhin als mündiger Bürger bezeichnen können? Dann aber müssen wir verstehen, wie Computer und Algorithmen „denken“. Gelingen kann das mit „Programmieren“ als verpflichtendes Schulfach. Ab der Grundschule, gleichberechtigt neben Lesen, Schreiben und Rechnen.
Respekt gebührt den einzelnen engagierten Lehrern und Schulen, die sich bereits heute nicht mit dem Status quo zufriedengeben: Die Referendare, die sich selbständig Digitale Didaktik in der Lehrerausbildung erarbeiten. Die Lehrer, die eigene Lernvideos für ihre Schüler produzieren. Oder die Schulen, die selbständig finanzielle Mittel einsammeln, um ihre Infrastruktur wenigstens ein bisschen zu modernisieren.
Deutschland, mit seinem Selbstverständnis als führende Nation der Tüftler und Denker, darf keine weitere Zeit verlieren.
Gleichzeitig beschleunigt sich der Technologiefortschritt immer weiter. Deutschland, mit seinem Selbstverständnis als führende Nation der Tüftler und Denker, darf keine weitere Zeit verlieren. Wir stehen noch ganz am Anfang, unsere Bildungslandschaft zeitgemäß und zukunftsfähig zu machen. Bildung ist die entscheidende Voraussetzung, im Wandel mitzuhalten und ihn mitzugestalten. Dabei geht es um mehr, als unsere (wirtschaftliche) Zukunftsfähigkeit. Es geht auch um Soziale Gerechtigkeit, nämlich die Vorbereitung künftiger Generationen auf die steigenden Qualifikationsanforderungen einer technisierten Arbeitswelt. Der Digitalpakt ist ein erster Schritt, nicht aber der wichtigste. Also, verschwenden wir keine weitere Zeit! Mutige Entscheidungen sind gefragt. Es geht um: unsere Zukunft!
Anstehende Maßnahmen:
☑ Digitalpakt beschließen
☐ Digitale Bildungsinfrastruktur finanzieren und herstellen
☐ IT-Administratoren / „Digitale-Hausmeister“ einstellen
☐ „Digitale Didaktik“ in Lehrerausbildung integrieren, Lehrpersonal kontinuierlich weiterbilden
☐ Unterrichtskonzepte, -materialien und Apps erarbeiten
☐ Lehrpläne überarbeiten
☐ Programmieren ab der Grundschule
☐ Neue Unterrichtsformen einführen
Gerade die zitierten skandinavischen Schulen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie mit einem bestimmten Schul- und Bildungsverständnis definitiv abgeschlossen haben. Das scheint mir der eigentliche Fortschritt, Umschwung, Neuanfang: Sukzessive auf Fächer verzichten, den elenden & repressiven Prüfungs- und Notenfetschismus abschaffen, altersdurchmischt lernen, die Käfighaltung auflösen. Das deutsche Bildungssystem (und die Lehrerausbildung als Teil von ihm) ist klinisch tot und lebt nur noch, weil es an Maschinen hängt. Und damit fangen wir neu an: https://lebendiglernen.ch/2017/08/21/bildung-in-der-digitalen-zukunft-jetzt-wirds-ganz-konkret/
20. Februar 2019
Hallo Herr Riederle, lassen Sie sich von einem digitalen Vertreter der Generation Y einen Gedanken mitgeben.
Sie haben in Ihrer Ausführung einen großen Fehler drin. Sie setzen das Digitale als gesetzt voraus (klar, von dieser Vereinfachung leben Sie auch finanziell), aber Sie hinterfragen nicht, welche Folgen das hat. Sie machen es sich einfach und sagen: das ist es, hört mir zu, und jetzt macht. Ein mündiger Bürger sollte genau dieses hinterfragen können.
Denn ich glaube dass wir erst dann, wenn wir diese Frage seriös (was bisher zu wenig geschieht) angehen, ein sinnvolles und zukunftsfähiges Konzept für die digitale Bildung ermitteln können, welches so dringend nötig ist.
8. Mai 2019