Sinnhaftigkeit einer Volksabstimmung über die Brexit-Entscheidung

von Philipp Riederle

Die jungen, europäischen Generationen blicken mit Furcht nach London. Noch immer ist völlig unklar, wie der Austritt Großbritanniens aus der EU stattfinden soll oder ob es gar zum ungeregelten Brexit kommt. Vollkommen klar ist aber, dass der Schaden für Wirtschaft und Gesellschaft immens sein wird – insbesondere für die Generationen Y und Z, welche innereuropäische Grenzkontrollen und Zölle höchstens aus den Geschichtsbüchern kennen. An Schuldzuweisungen  wurde nach der „Leave EU“-Entscheidung nicht gespart: „Die Alten verbauen den Jungen die Zukunft!“- „Selbst Schuld, wenn die Jungen nicht zur Abstimmung gehen!“. Ich trat einen Schritt zurück und fragte mich: Ist es überhaupt sinnvoll eine so weitreichende Entscheidung per Volksabstimmung zu treffen? Darüber und warum die internationale Abhängigkeit nach dem Brexit für Großbritannien eher größer als kleiner wird, habe ich mir ein paar Gedanken gemacht.

 

1 Einleitung

Die Herausforderungen, denen die Menschheit gegenwärtig gegenüber steht, sind enorm: ein rasanter Klimawandel, ein exponentieller Technologiefortschritt und eine allgegenwärtige, globale Ungleichheit (vgl. Chase-Dunn & Lawrence, 2011). Diese Herausforderungen eint, dass Ihnen effektiv lediglich auf globaler Ebene begegnet werden kann. So sollte anzunehmen sein, dass sich angesichts des vereinten Handlungsbedarfs, Staaten zu Bündnissen zusammenschließen oder gar transnationale politische Steuerungsmechanismen etablieren. Stattdessen ist gegenwärtig innerhalb der Bevölkerung verschiedenster Staaten oder Regionen eine gewisse Sehnsucht nach Desintegration zu erkennen (Katalonien, Schottland, Dänemark, Niederlande, Tschechische Republik, etc.) oder die Desintegration bereits beschlossene Sache (Vereinigtes Königreich). Im vorliegenden Fall des EU-Austritts des Vereinigten Königreichs („Brexit“) wurde die Entscheidung am 23. Juni 2016 direktdemokratisch durch ein Referendum herbeigeführt.

Die Rechte, Pflichten, Vor- oder Nachteile der Mitgliedschaft eines Staates in der Europäischen Union sind ein äußerst komplexes Themenfeld. Eine Austrittsentscheidung bringt weitreichende und langfristige Konsequenzen für das Austrittsland, wie auch die verbleibenden Länder, mit sich. Dies wirft die Frage auf, ob eine Volksentscheidung, mit einer einzelnen binären Frage, ein sinnvolles Instrument darstellt, eine so komplexe Entscheidung zu fällen. Dieser Frage soll im vorliegenden Aufsatz nachgegangen werden.

Im ersten Teil des Aufsatzes erfolgt eine theoretische Auseinandersetzung mit der Funktionsweise von Regierung in komplexen Gesellschaften, den sich daraus ergebenden Herausforderungen für die Demokratie und der Implikationen direktdemokratischer Verfahren. Im zweiten Teil werden die im Kontext der Fragestellung relevanten Eckpunkte des Brexit-Referendums vorgestellt. Darauf folgt abschließend eine Bewertung der sinnvollen Anwenderbarkeit direktdemokratischer Instrumente auf den Brexit.

2 Theoretischer Hintergrund

Im Folgenden soll aus theoretischer Sicht beleuchtet werden, was Regieren im transnationalen Kontext bedeutet und welche Herausforderungen sich daraus für die Demokratie ergeben. Anschließend folgt ein Überblick über Bedingungen und Folgen von Volksentscheidungen.

2.1 Regieren globaler Gesellschaften

Das Zusammenleben in Gesellschaften besteht aus funktional differenzierten Teilsystemen, wie zum Beispiel Wirtschaft, Kultur, Politik. Zwischen diesen operativ geschlossenen Teilsystemen bestehen unterschiedlichste Beziehungen, Abhängigkeiten oder strukturelle Kopplungen. Die Teilsysteme arbeiten jeweils nach ihren individuelle Eigenlogiken. Eine gezielte Steuerung von außerhalb ist deshalb kaum möglich. Solche Eingriffe (oder „Verstörungen“) haben je nach Teilsystem unterschiedlichste, nicht absehbare Folgen, da sie vom jeweiligen System nach dessen Eigenlogik selektiert und verarbeitet werden (vgl. Willke, 2014b).

Politische Entscheidungen werden heute nicht mehr ausschließlich im Teilsystem der formalen, nationalen Politik getroffen, sondern ebenso von internationalen Akteuren und Institutionen anderer Teilsysteme. Diese Akteure benötigen in ihren Systemen keine demokratische Legitimation, obwohl sie bedeutenden Einfluss auf demokratische Gesellschaften, auch anderer Länder, ausüben können. Da das politische System das letzte Teilsystem ist, welches national begrenzt wird, fällt es nationalen Regierungen zunehmend schwer, Kontrolle über die transnationalen Einflüsse und Abhängigkeiten der Teilsysteme ihrer Gesellschaft zu bewahren. Faktisch verliert nationale Politik ihre Rolle als souveräne Entscheidungsinstanz, da gegenwärtige Problemstellungen massiv global verflochten sind und nationale Parlamente hierfür keine Entscheidungskompetenzen besitzen. Beide Phänomene zusammen, die Produktion politischer Entscheidungen außerhalb des politischen Systems und die globalen Interdependenzen, bezeichnet Willke als „doppelte Dezentrierung“ (vgl. Willke, 2016).

Um sich weiterhin Einflussmöglichkeiten in den nun transnationalen Zusammenhängen zu sichern, partizipieren kluge Nationalstaaten an transnationalen politischen Institutionen bzw. betreiben Global Governance(vgl. Dahl, 1994; Willke, 2006). Die Kehrseite der Abgabe von Kompetenzen an transnationale Institutionen besteht folglich in der Reduktion der Autonomie der Nationalstaaten. Nationale Regierungen täten sich aber besonders schwer, „Teile ihrer absoluten Souveränität aufzugeben […]. Angesichts drängender globaler Probleme muss aber eine unbeschränkte Souveränität der Einzelstaaten als Anachronismus bezeichnet und bewertet werden.“ (Willke, 2014b, S. 26)Diese Schwierigkeit bezeichnet Dahl als „Democratic Dilemma“: In „kleinen“ demokratischen Systemen kann sich der Einzelne sehr viel Stärker in Entscheidungsprozesse einbringen, welche relativ unbedeutend sind. Wohingegen „große“ politische Systeme, die die Auseinandersetzung mit sehr viel bedeutenderen Problemen ermöglichen, die Einfluss- und Partizipationsmöglichkeiten des Einzelnen reduzieren (vgl. Dahl, 1994).

2.2 Demokratischer Umgang mit komplexen Problemen

Durch die Globalisierung und die Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft sind gegenwärtige politische Problemstellungen von einer zunehmenden Komplexität gekennzeichnet. Um hierbei zu fundierten Entscheidungen zu gelangen, sind ein deutlich erhöhtes Maß an Bildung, Wissen bzw. Information, wie auch eine umfangreichere Analyse der Konsequenzen, auch in anderen Teilsysteme im globalen Kontext, erforderlich. Selbst fachspezifische Ministerien, mit langjährig erfahrenem Verwaltungspersonal, sind inzwischen hochgradig angewiesen auf die entstandene „Experten-Industrie“ aus Lobbyisten, NGOs und Politikberatern, um kompetente Entscheidungen zu treffen (vgl. Willke, 2014a, 2016). Ist die Demokratie, angesichts dieser Anforderungen hinsichtlich Komplexität und Verständnis, überhaupt noch eine angemessene Herrschaftsform, von der kompetente Entscheidung erwartet werden können?

Nach Hélène Landemore sei eine demokratische Entscheidung grundsätzlich immer besser, als die Entscheidung eines einzelnen Herrschers oder einer herrschenden Elite. Aufgrund der Mechanismen demokratischer Institutionen, sei die kollektive Intelligenz einer Gruppe höher, als die summierte Intelligenz der Einzelnen. Als die hierfür notwendigen Mechanismen nennt Landemore „maximally inclusive deliberation“ (Debatte) und „majority rule under universal suffrage“ (Mehrheitsregel). Entscheidend sei „cognitive diversity“, also das Auffeinandertreffen unterschiedlichster Perspektiven. So dass diese sich bei der Debatte zu einer Lösungsfindung gegenseitig befruchten. Allgemeine Mehrheitsentscheidungen seien zwar besser als die Entscheidungen eines Einzelnen, aber nicht besser als Mehrheitsentscheidungen unter wenigen klugen Personen. Zusammengenommen, Debatte und Mehrheitsregel, schlagen diese demokratischen Mechanismen aber jede Form der Herrschaft weniger (vgl. Landemore, 2008).

Fraglich erscheint aber, inwiefern unter gegebenen Umständen, nämlich komplexer Problemstellungen und globaler Interdependenzen, die von Landemore beschworene „maximally inclusive deliberation“ den erwünschten Effekt einer kollektiven Intelligenz tatsächlich mit sich bringt. Willke (2016, S. 47)entgegnet: „Ein noch so intensiver Diskurs unter Blinden macht nicht sehend.“ Auch Lindbloms „muddling-through“, also die inkrementelle, kleinteilige Steuerung, basierend auf wechselseitigen Abstimmungsprozessen der beteiligten Akteure, welches konzeptuell dem Landemore’schen Deliberation-Prinzip nahe kommt, mag bei überschaubaren Veränderungen funktioniert haben, scheitert aber an der Überforderung einschneidender, dynamischer Disruptionen (vgl. Lindblom, 1959).

Im Alltag federn repräsentative, politische Systeme die besprochenen Herausforderungen bereits ab, indem sie gegenüber dem allgemeinen Wahlvolk die eigentliche Komplexität hinter „dümmlichen Schlagworten auf Wahlplakaten“ verstecken und sich bei der Problemlösung Unterstützung der „Experten-Industrie“ holen. Problematisch hierbei ist, dass der Einbezug von Experten intransparent am Wähler vorbei passiere (vgl. Willke, 2016, S. 46ff).

Trotz – oder gerade wegen – zunehmender Komplexität stellt die Demokratie, in Abgrenzung zu einer Expertendiktatur, aber noch immer eine vorteilhafte Herrschaftsform dar, wenn auch institutionellen Anpassungen hinsichtlich Global Governance und transparentem Einbezug von Experten notwendig sind.

2.3 Direkte Demokratie

Die repräsentative Demokratie begegnet den gegenwärtigen Herausforderungen bereits durch Komplexitätsreduktion gegenüber dem Wähler. Bei der direkten Demokratie liegt die endgültige Entscheidungskompetenz und Verantwortung beim individuellen Bürger. Ist dieser in der Lage vorteilhafte Entscheidungen zu fällen?

2.3.1 Definition und Differenzierung

In einer Volksabstimmung votiert die gesamte Wahlbevölkerung zu einem politischen Problem. Volksabstimmungen können, je nach Verfassung, unterschiedliche konkrete Ausprägungen haben und lassen sich in vier Dimensionen kategorisieren:

1) Von einer Volksinitiative ist die Rede, wird die Volksabstimmung aus dem Volk heraus initiiert und so in den Gesetzgebungsprozess eingebracht. Dem gegenüber steht das Referendum, welches aus dem politischen System heraus ausgelöst wird.

2) Obligatorische Referenden werden verbindlich durch einen verfassungsrechtlichen Automatismus beim Vorliegen gewisser politscher Sachfragen ausgelöst. Ein fakultatives Referendum wird aus politischen Erwägungen freiwillig ausgelöst.

3) Weiter unterschieden wird zwischen rechtsverbindlichen Referenden, deren Frage nach Durchführung als beschlossen gilt, und konsultativen Referenden, über welche sich Regierung bzw. Parlament hinwegsetzen können. Als zusätzliche Hürde für rechtsverbindliche Referenden können Beteiligungs- oder Zustimmungsquoren festgelegt werden. Die Venedig-Kommission für Demokratie des Europarats spricht sich allerdings gegen beide Quoren aus.

4) Bei prädisponierten Referenden stützt sich die Durchführung auf rechtliche Regelungen, während bei nicht-prädisponierte Referenden vorher keine rechtlichen Durchführungsregeln bestanden haben (vgl. Schünemann, 2017, S. 51–68).

2.3.2 Bewertung von Referenden

Dass Direktdemokratie generell eine „Prämie für jeden Demagogen“ (Theodor Heuss) sei, wurde von der empirischen Demokratieforschung widerlegt. In wohlhabendenden, etablierten Demokratien, habe direkte Demokratie eine strukturkonservierende und integrierende Funktion. Sie gelte als „Heilmittel mit Nebenwirkungen“ (vgl. Schmidt, 2008, S. 350ff). Auf Datengrundlage des Demokratiebarometers, konnte empirisch nachgewiesen werden, dass weder zwischen der Häufigkeit von Volksabstimmungen und der Demokratiequalität eines Landes, noch zwischen Referendumshäufigkeit und politischer Partizipation ein signifikanter Zusammenhang bestehe (vgl. Merkel & Ritzi, 2017, S. 41–49). Aus demokratietheoretischer Sicht ist die Legitimität direkter Demokratie nicht zu bezweifeln, unvermittelter lässt sich die Souveränität des Wahlvolkes nicht ausüben. Doch sprechen diese Indikatoren lediglich für die Legitimität des Zustandekommens des Entscheidungsprozesses, über die inhaltliche Qualität der Ergebnisse ist hieraus noch nichts zu erfahren. Dieser Aspekt soll im Folgenden diskutiert werden.

Ein Vorteil des Repräsentativ-Systems liegt in der Fähigkeit zur produktiven Problemlösung und Kompromissfindung: Für Repräsentanten gilt das „Gesetz des Wiedersehens“, welches zu Dialog- und Kompromissbereitschaft führt. Im Rahmen von Deliberation können „Tauschgeschäfte“ (im Sinne gegenseitiger Zugeständnisse) ausgehandelt, Kompromisse gefunden und Ansätze zur Problemlösung erarbeitet werden. Hier kommen im Idealfall Landemores Ausführungen zur kollektiven Intelligenz durch Deliberation zum Tragen (wobei eine maximimale „cognitiy diversity“ der Repräsentanten bezweifelt werden darf). Im direktdemokratischen Verfahren gibt es, aufgrund der Menge der Beteiligten, aber keine praktische Möglichkeit für Deliberation und Kompromissfindung. Die zu treffenden Entscheidungen sind binär: Ja oder Nein. Dadurch bestehe eine Tendenz zur Unterdrückung von Minderheitsrechten, was nach Alexis de Tocqueville als „Tyrannei der Mehrheit“bezeichnet wird (vgl. Merkel & Ritzi, 2017, S. 9–49; Schünemann, 2017).

Volksbefragungen unterliegen einer Soziale Selektivität. Das „untere Drittel der Gesellschaft“ sei aufgrund unzureichender Teilnahme in Volksbefragungen schlecht repräsentiert, wie es die empirischen Befunde aus der Schweiz und den USA implizieren. Deren Interessen wären in repräsentativen Institutionen besser vertreten (vgl. Merkel, 2011).

Der Vorwurf der Möglichkeit des Missbrauchs bzw. der strategischen Manipulation durch Eliten kann nicht von der Hand gewiesen werden. Denn Interessensgruppen, die über politische, organisatorische und/oder finanzielle Ressourcen verfügen, können einen asymmetrisch privilegierten Einfluss nehmen (vgl. Schünemann, 2017, S. 43ff). „Das Volk ist in Volksabstimmungen wesentlich abhängiger von […] wirtschaftlichen und politischen Eliten, welche die Referendumskampagnen und ihre Ergebnisse maßgeblich bestimmen.“ (Merkel, 2011, S. 52)

Ein weiterer Vorteil für das Repräsentativ-System ergibt sich aus der Rechenschaftspflicht von Repräsentanten. Diese stehen unter Beobachtung Ihrer Wähler und müssen sich für Ihre Entscheidungen rechtfertigen, denn sie können abgewählt werden. Somit besteht der Anreiz, die Wähler durch verantwortungsvolle Entscheidungen zufrieden zu stellen (oder sie im besten Fall sogar einzubeziehen). Im Gegensatz hierzu sind Volksbefragungen „one-shot-games“. Das Wahlvolk muss sich vor niemandem rechtfertigen, es kann nicht abgewählt werden. (vgl. Merkel & Ritzi, 2017; Schünemann, 2017). Dies kehre das „Schlechtere-Ich“ eines Menschen im Abstimmungsverhalten hervor (vgl. Offe, 1998, S. 87). Das Konzept der „Rational Irrationality“ besagt, dass das Wahlvolk keinen Anreiz habe, den Aufwand auf sich zu nehmen, sich auf eine Entscheidung kompetent vorzubereiten, auf welche das Abstimmungsverhalten des Einzelnen ohnehin nur einen kleinen Effekt habe. Und so sei die rationale Verhaltensweise, Irrational bzw. Inkompetent abzustimmen (vgl. Caplan, 2008, S. 114–141). Deswegen sei es umso wichtiger, „dass auch per Volksabstimmung getroffene Entscheidungen reversibel sein müssen. Das Volk muss also zu einem anderen Zeitpunkt eine anderslautende Entscheidung über dieselbe Materie fällen können.“ (Merkel & Ritzi, 2017, S. 243).

Der Vorwurf des inkompetenten Abstimmens wird in der Literatur auch unter dem Schlagwort der „Unwissenheit der Massen“ verhandelt. So hätten hauptberufliche Parlamentarier einen vermeintlichen Informations- und Wissensvorsprung im Vergleich zum allgemeinen Wahlvolk. Kritiker halten zwar entgegen, dass Volksbefragungen die Informiertheit des Wahlvolks steigere und dass ein Informationsvorsprung bei Parlamentariern nicht zwangsläufig angenommen werden dürfe (vgl. Schünemann, 2017, S. 37ff). Bereits John Stuart Mill und Jospeh Schumpeter wiesen auf das Problem hin, dass in Demokratien zahllose Inkompetente mitwirken (vgl. Schmidt, 2008, S. 462). Dass sich dieses Problem in Zeiten komplexerer Problemstellungen und globaler Interdependenzen weiter verschärft, liegt nicht nur auf der Hand, sondern wurde auch bereits empirisch belegt.

Dem Einfluss der Komplexität der Abstimmungsfragen auf das individuelle Wahlverhalten wurde mittels quantitativer Analyse anhand Schweizer Volksabstimmungen zwischen 1981 und 2010 nachgegangen. Die Ergebnisse zeigen, dass es für die Wähler schwierig sei, ihre persönlichen Konsequenzen aus komplexen Entscheidungen einzuschätzen. Dies führe zu asymmetrisch verteilten „random errors“, je komplexer die Entscheidungen oder je niedriger der Bildungsgrad des Abstimmenden. Der positive Effekt von Volksabstimmungen, nämliche die Heterogenität der Entscheidenden (wie ihn Landemore mit der „cognitive diversity“ oder dem „Miracle of Aggregation“ begründen würde), wird bei komplexen Fragen vom negativen Effekt, der „assymetric random errors“ dominiert (vgl. Hessami, 2016). Die Studie empfiehlt: „From a welfare perspective, it would be desirable to avoid highly complex propositions“(Hessami, 2016, S. 285). Oder wie Scharpf resümiert: „Volksabstimmungen taugen zur Legitimation einfacher Entscheidungen […]. Für die Bewältigung der […] Komplexität der laufenden Entscheidungsproduktion moderner politischer Systeme sind die Instrumente der direkten Demokratie aber ungeeignet.“ (Scharpf, 1998, S. 164)

Zwei positive Effekte von Volksabstimmungen sollen an dieser Stelle aber nicht unterschlagen werden: So sei „das Vertrauen und der Legitimationsglaube [..] größer als bei Parlamentsgesetzen oder Regierungsbeschlüssen.“ (Merkel, 2011, S. 55)

Als Zwischenfazit zu direktdemokratischen Instrumenten kann festgehalten werden: „Sie können die Quantität der Partizipation vergrößern, doch vermindern sie oft die Qualität der Beteiligung […], insbesondere die der beratungsintensiven Deliberation“ (Schmidt, 2008, S. 352f).

3 Das Brexit-Referendum

Am 23. Juni 2016 votierten die Bürger des Vereinigten Königreichs im Rahmen eines Referendums mit knapper Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union. Im Folgenden soll zuerst ein Überblick über Hintergrund, Durchführung und Ergebnis gegeben werden, woraufhin ein kompakter Abriss über die Konsequenzen der Referendumsentscheidung folgt.

3.1 Hintergründe

Das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union kann schon von Beginn an als Ambivalent bezeichnet werden. Die ersten Beitrittsverhandlungen zur damaligen „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) im Jahr 1961 scheiterten an der Vielzahl britischer Sonderwünsche. Insbesondere aufgrund anhaltend schlechter Wirtschaftsentwicklung trat das Vereinigte Königreich dann im Jahr 1973 der EWG bei, die Wirtschaft profierte. Nachdem sich die ökonomische Lage stabilisierte, prägte Thatcher maßgeblich das Ungerechtigkeitsempfinden gegenüber der EWG/EU: Als (nun) „Nettobeitragszahler“ sei die Mitgliedschaft ein schlechtes Geschäft. Trotz zahlreicher Ausnahmegenehmigungen und Beitragsrabatten hält dieses Empfinden bis heute an. Auch ein starker Englischer Nationalismus spielt eine wesentliche Rolle im anhaltenden und verbreiteten britischen Euroskeptizismus (vgl Glencross, 2016, S. 7–20).

Die britische Regierung sah durch die EWG/EU ihre Souveränität gefährdet, sodass sie ursprünglich dem Schengener Abkommen ebenso wenig beitreten wollte, wie später der Währungsunion. Trotz bereits bestehender Ausnahmeregelungen wurden weitere Sondergenehmigungen gefordert, einige gar durchgesetzt (z.B. weitere Opt-Outs nach Lissabon-Vertrag, weitere Beitragsrabatte). Mittels der Drohkulisse des EU-Ausstiegs versuchte Cameron in EU-Verhandlungen ab 2013 „noch mehr Rechte, Privilegien und Einflussmöglichkeiten bei gleichzeitig niedrigeren Verpflichtungen“ (Niedermeier & Ridder, 2017, S. 13)zu erhalten. Und er nutzte dieses Drohgebaren geschickt im Wahlkampf zur Unterhauswahl 2015 zum eigenen Machterhalt. Der rege Zugewinn europakritischer Parteien bei der Europawahl 2014 und der Unterhauswahl 2015 trugen maßgeblich dazu bei, dass Cameron das Referendum durchführen ließ (vgl Niedermeier & Ridder, 2017).

3.2 Durchführung

Die konkrete Durchführung für das Brexit-Referendum wurde Ende 2015 im „European Union Referendum Act 2015“ gesetzlich geregelt. Unter anderem wurde darin die konkrete Abstimmungsfrage festgelegt. Sie lautet: „Should the United Kingdom remain a member of the European Union or leave the European Union?” mit den Antwortmöglichkeiten: „Remain a member of the European Union” oder “Leave the European Union”. Formal handelt es sich um ein nicht bindendes, konsultatives Referendum (vgl. European Union Referendum Act 2015, 2015). Die allgemeine Gesetzesgrundlage für die Durchführung von Referenden im Vereinigten Königreich stellt der „Political Parties, Elections and Referendums Act 2000“ (2000 c. 41) dar. Das Referendum wurde fakultativ angesetzt und ist auch für solchartige Entscheidungen nicht obligatorisch. Die Rechtsgrundlage auf der EU-Ebene für einen Austritt aus der Union ist der Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union (in der Fassung nach den Reformen des Lissabon-Vertrags, gültig seit 01.12.2009).

Am 20. Februar 2016 erfolgte die Bekanntgabe des Referendumstermins. Die darauf folgenden Informations- und Wahlkampfkampagnen werden in der Literatur fast einheitlich als Desaster beschrieben: „The campaign cannot be said to have expanded public knowledge of the EU and how it works.“ (Glencross, 2016, S. 37)Stattdessen handelte es sich im öffentlichen Diskurs um eine emotionale und abstrakte Debatte über Identität und Souveränität, die geschürt wurde durch faktische Falschinformationen. Ein Beispiel: Eines der Hauptargumente der Austritts-Befürworter, die es sogar in den offiziellen „Referendum Voting Guide“ geschafft hat, war unter anderem der Slogan über Zahlungen in Höhe von 350 Millionen Pfund pro Woche an die EU. Die korrekte Zahl (unter Berücksichtigung der „Brittenrabatte“ und der Zahlungen der EU an UK) wäre aber 136 Millionen Pfund pro Woche gewesen (vgl. Niedermeier & Ridder, 2017, S. 26ff). Selbst das Informationsverhalten der Regierung war geprägt von Fehlplanung und Versäumnissen. So erfolgte beispielsweise am 11. April 2016 die Zustellung einer 16 seitigen Regierungsinformation an alle Haushalte in England, die Informationen zum EU-Nutzen geben und zur Wahl motivieren sollte. Entscheidende Informationen zu wirtschaftlichen Konsequenzen fehlten aber in dieser Publikation – die offiziellen ökonomischen Studien des Finanzministeriums zu den Lang- und Kurzfristigen Effekten eines EU-Austritts (für die Ergebnisse siehe 3.4) wurden erst am 18. April bzw. 23. Mai veröffentlicht (vgl. Welfens, 2017, S. 63ff).

3.3 Ergebnis

Das Referendum zum Verbleib oder Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU wurde am 23. Juni 2016 durchgeführt. Bei einer Wahlbeteiligung von 72,21% (33.578.016 abgegebene Stimmen) stimmten 48,11% (16.141.241 Stimmen) für den Verbleib in der EU, 51,89% (17.410.742 Stimmen) für den Austritt. Da für das Brexit-Referendum keine Quoren-Regelung bestand, gilt, trotz des geringen Vorsprungs, die Entscheidung für den Austritt.

Bei Betrachtung des Abstimmungsverhaltens unterschiedlicher sozidemographischer Gruppen offenbaren sich zahlreiche Bruchlinien: alt (Austritt, hohe Wahlbeteiligung) versus jung (Verbleib, geringere Wahlbeteiligung); London/Schottland/Nordirland/Gibraltar (Verbleib) versus England/Wales (Austritt); niedriger Bildungsgrad (Austritt) versus hoher Bildungsgrad (Verbleib) (vgl. Niedermeier & Ridder, 2017, S. 41).

3.4 Konsequenzen

Nach der verfassungskonformen Entscheidung über den Austritt auf nationalstaatlicher Ebene, sieht Art. 50 des „Vertrag über die Europäische Union“ vor, dass das Austrittsland dem Europäischen Rat die Austrittsabsicht mitteilt. Dies erfolgte am 29. März 2017. Nach einer zweijährigen Frist, also am 29. März 2019, gilt der Austritt als rechtskräftig, sofern nicht im Europäischen Rat einstimmig eine Fristverlängerung beschlossen wurde (vgl. „Vertrag über die Europäische Union“, 2008, Art. 50).

Die Konsequenzen des Austritts für das Vereinigte Königreich, wie auch die für die EU, sind ein äußerst breites und komplexes Feld. Für das Austrittsland sind im Grunde alle Politikbereiche betroffen, in denen die EU Kompetenzen besitzt. Diese sind im „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ geregelt. Zu den ausschließlichen Zuständigkeiten der EU gehören: Währungspolitik (für Euro-Länder), Wettbewerbsrecht, Zollunion, Handelspolitik. Eine geteilte Zuständigkeit für EU als auch Mitgliedsstaaten besteht auf den folgenden Feldern: Energie, Landwirtschaft und Fischerei, Verbraucherschutz, Forschung und Entwicklung, Sozialpolitik, Sicherheit und Verteidigung. Eine unterstützende Rolle nimmt die EU bei den folgenden Bereichen ein: Gesundheit, Industrie, Kultur, Tourismus, Bildung, Jugend, Sport, Katastrophenschutz, Verwaltungszusammenarbeit (vgl. „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“, 2008, Art. 2-6).

Welche konkreten Veränderungen sich auf all diesen Politikfeldern für das Vereinigte Königreich durch einem Austritt ergeben und ob diese, im Einzelnen oder auch in ihrer Gesamtheit, Vorteilhaft oder Nachteilig sind, lässt sich an dieser Stelle nicht darstellen (und ist für die Fragestellung dieses Aufsatzes nicht von Relevanz). Bedeutend ist lediglich die uferlose Komplexität der Folgenbeurteilung der Wahloptionen. Eine Kurzübersicht (Briefing Paper) des „House of Commons“ über mögliche konkrete Auswirkungen, welche aber keineswegs eine umfassende Analyse oder Bewertung darstellt, umfasst bereits rund 200 Seiten (vgl. Miller, 2016).

Die wohl bedeutendsten Konsequenzen für das Vereinigte Königreich sind ökonomischer Natur. Die offiziellen Studien des britischen Finanzministeriums vom 18. April und 23. Mai 2016 geben hierzu einen methodisch soliden Aufschluss über die lang- und kurzfristen Effekte. Je nachdem, ob das Vereinigte Königreich nach einem Austritt Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums bleibe, es einen Freihandelsvertrag mit der EU schlösse oder nicht, würde nach 15 Jahren, der mittlere, reale Einkommenseffekt -3,8%, -6,2% oder -7,5% betragen. Dies wären pro Haushalt zwischen 3700 bis 6600 Pfund, was ungefähr einem Monatsgehalt entspricht. Hinzu kämen weitere Wohlfahrtsverluste aus nicht erreichten Einkommenszuwächsen aus EU-Binnenmarktvertiefungen (vgl Welfens, 2017, S. 62ff).

4 Bewertung

Im Folgenden soll bewertet werden, ob das Instrument des Referendums für die Entscheidung über einen EU-Austritt als sinnvoll angesehen werden kann.

Als mögliche Ursache, warum im Vereinigten Königreich ein EU-Austritt zur Debatte stand, kann das Gefühl eines Kontroll- bzw. Bedeutungsverlustes des nationalen Politiksystems herangezogen werden. Die politische Führung versuchte stets während der gesamten Mitgliedschaft die Kompetenzen der EU im eigenen Land gering zu halten um die eigene vermeintliche Souveränität zu sichern. Vermeintlich, da der Kontrollverlust nicht von der EU ausgeht, sondern das Phänomen der „doppelten Dezentrierung“ ursächlich ist. Gesellschaftliche Teilsysteme kennen keine nationalen Grenzen mehr, sind untereinander international verflochten und sie produzieren selbst politische Entscheidungen. Die EU, als multinationale politische Institution, sollte daher vielmehr als ein Mechanismus zur Wahrung von Einfluss über transnationale Teilsysteme angesehen werden. Wieder mehr Autonomie und Kontrolle zurück zu erlangen war eines der zentralen Versprechen im Wahlkampf für den Austritt und Inhalt populistischer Parolen. Doch da die globalen Interdependenzen und Herausforderungen auch nach einem Brexit bestehen bleiben, ist dies eine Illusion. Ein Post-Brexit Großbritannien werde sich eher nicht mehr oder in wesentlich reduzierter Form an wesentlichen, transnationalen Entscheidungsprozessen beteiligen können.

Doch der „Wutausbruch“ der abhängten Bevölkerung, wie der britische Philosoph Raymond Geuss (2016)das Brexit-Ergebnis kommentierte, hat sich im Brexit-Referendum gegen die EU entladen – und damit nicht gegen die eigentliche Ursache für den gefühlten Kontroll- bzw. Bedeutungsverlusts. Aber die EU wird gerne als Sündenbock missbraucht, so wie sich beispielsweise nationale Regierungen bei unangenehmen Entscheidungen gerne hinter dem breiten Rücken der EU verstecken (vgl. Willke, 2014a, S. 134).

Die äußerst wichtige Aufgabe, die Wähler vor einer Volksabstimmung umfassend über die Wahloptionen und Ihre Folgen zu informieren, kommt der Regierung bzw. den Kampagnenführern zu. Diese wurde beim Brexit-Referendum mangelhaft erfüllt und konnte so kaum einen Beitrag zu einer kompetenten Entscheidungsfindung liefern (vgl. 3.2.). Stattdessen wurden abstrakte, emotionale und noch dazu illusionäre Hoffnungen geschürt. Dieses Vakuum an fundierter Information war der Nährboden für Falschinformationen und Populismus, wofür Volksabstimmung als besonders anfällig gelten.

Aller Kritik aber voran steht die enorme Komplexität der Brexit-Entscheidung. Etliche Politikfelder und fast jedes gesellschaftliche Teilsystem, die wie zuvor dargelegt alle in ihrer jeweiligen Eigenlogik auf die „Verstörung“ reagieren, sind von einem Austritt betroffen. Die konkreten Auswirkungen innerhalb jedes Politikfeldes zu analysieren, zu verstehen und zu bewerten ist für den Durchschnittswähler eine unerfüllbare Anforderung. Bei solchartigen Themen „von allgemeinem Diskurs und vernünftigen Wahlentscheidungen zu reden ist Rosstäuschung.“ (Willke, 2016, S. 19)

Auch Empirische Evidenz spricht dafür, dass Volksabstimmungen ungeeignet sind für komplexe Entscheidungen (siehe 2.3.2). Dennoch ist aber festzuhalten, dass selbst solch komplexe Entscheidungen keine Expertendiktatur rechtfertigen. Idealerweise bedient sich ein demokratisch legitimiertes Parament auf transparentem und institutionalisiertem Wege dem Rat von Expertengremien, wie es beispielsweise Willke anhand eines Oberhaus-Unterhaus-Prinzips komplexer Demokratie vorschlägt (vgl. Willke, 2016, S. 99ff).

Aufgrund der fehlenden Rechenschaftspflicht und dem damit verbundenen fehlenden Anreiz zur Vorbereitung einer kompetenten Entscheidung, kommt der Reversibilität direktdemokratisch getroffenen Entscheidungen eine besondere Wichtigkeit zu. Rein formal könnte das Vereinigte Königreich zwar nach erfolgtem Austritt wieder einen Beitrittsantrag stellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies passiere, und dass diesem dann auch stattgegeben werde, ist aber als äußerst gering einzuschätzen. Die Brexit-Entscheidung kann demnach tendenziell als nicht reversibel angesehen werden und ist somit auch in dieser Hinsicht ungeeignet für eine Volksabstimmung

Dass Volksabstimmungen keine Deliberation und Kompromissfindung zulassen, wirkt sich im vorliegenden Fall ebenfalls negativ aus: Es bleibt im Verborgenen, welche konkrete Kritik innerhalb welchen Teilsystems für einen wie großen Teil der Bevölkerung vorliegt. Die Möglichkeit einer produktiven Problemlösung, Kompromissfindung oder inkrementellen Verbesserung bleibt so verwehrt, einzig zählt: Alles oder Nichts.

Die Kritik, Volksabstimmungen unterlägen einer Sozialen Selektivität, sodass die Interessen des „unteren Drittels“ schlecht vertreten seien, trifft im Fall des Brexit-Referendums nicht zu: „Das Ergebnis der britischen Abstimmung war [..] der Ausdruck der Meinungen jenes Teils der Bevölkerung, der ungebildeter, älter, einkommensschwächer und weniger kosmopolitisch ausgerichtet ist“ (Merkel & Ritzi, 2017, S. 217).

Sich aufgrund des höheren Legitimationsglaubens, also der stärkeren Akzeptanz direktdemokratisch getroffener Entscheidungen (vgl. 2.3.2), durch ein Referendum Bestätigung für den eigenen politischen Kurs zu verschaffen, ist eine verlockende Idee. Wenn die Bevölkerung aber nicht versteht, worüber sie abstimmt, kann dieser Schuss nach hinten losgehen. Insgesamt ist deshalb das Instrument des Referendums für die Frage nach einem EU-Austritt als ungeeignet zu bewerten.

5 Fazit

Die Ausgangsfrage, ob die Entscheidung zum EU-Austritt des Vereinigten Königreichs sinnvoll per Referendum gefällt werden kann, ist abschließend mit einem klaren Nein zu beantworten.

Die Implikationen direktdemokratischer Instrumente wurden im vorliegenden Aufsatz auf den Brexit angewendet. Insbesondere die fehlenden Möglichkeit zur Kompromissfindung bei Volksabstimmung, der nicht gegebenen Reversibilität eines EU-Austritts und der enormen Komplexität der Folgenabschätzung eines Brexits in den unterschiedlichsten Politikbereichen sind gewichte Argumente. Das Instrument des Referendums eignet sich nicht für eine solchartige Frage, die Auswirkungen auf die Entscheidungsqualität sind klar negativ.

Des weiteren wurde im Kontext der doppelten Dezentrierung die These entwickelt, dass sich am Brexit-Referendum ein Wutausbruch entladen habe, der auf den gefühlten Kontroll- bzw. Bedeutungsverlust des nationalen Politiksystems zurückzuführen sei. Doch mit der Entscheidung zum Brexit verstärke sich nun genau das, wovor sich die Nation eigentlich schützen wollte: Größere Abhängigkeit und größere Fremdbestimmung. Unter diesem Aspekt hätte die Abstimmungsfrage konsequenterweise lauten müssen: „Soll das Vereinigte Königreich sich aus der Mitgestaltung transnationaler Zusammenhänge zurückziehen?“

Doch scheint das Vereinigte Königreich aus dem Ausgang des Brexit-Referendums bisher wenig gelernt zu haben: Kurios ist die anhaltende Forderung nach einem erneuten, zweiten Referendum über die Brexit-Frage. Fraglich ist, ob dabei ein anderes Ergebnis, mit höherer Entscheidungsqualität, herauskommen würde, und wenn ja, welches der Ergebnisse beider Referenden denn dann letztendlich zähle. Ein zynischer Schlusssatz in Anlehnung an Landemore könnte lauten: In einer Demokratie erhält das Volk eben jene Führungspersönlichkeiten und Entscheidungen, die es verdiene (vgl. Landemore, 2008, S. 23).

Literatur

Caplan, B. D. (2008). The myth of the rational voter. why democracies choose bad policies. Princeton, NJ [u.a.]: Princeton University Press.

Chase-Dunn, C., & Lawrence, K. S. (2011). The Next Three Futures, Part One: Looming Crises of Global Inequality, Ecological Degradation, and a Failed System of Global Governance. Global Society, 25(2), 137–153.

Dahl, R. A. (1994). A Democratic Dilemma: System Effectiveness versus Citizen Participation. Political Science Quarterly, 109(1), 23.

European Union Referendum Act 2015, Pub. L. No. 2015 c. 36 (2015). United Kingdom.

Geuss, R. (2016, Juni 28). Woher kommt die Wut der Briten? Süddeutsche Zeitung. Abgerufen von http://www.sueddeutsche.de/kultur/die-gruende-fuer-den-brexit-woher-kommt-die-wut-der-briten-1.3054118 (29.01.2018)

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